Cannabis in der Schmerztherapie
Nicht alle Patienten erreichen mit den klassischen Analgetika eine akzeptable Schmerzlinderung, in manchen Fällen tritt sogar eine Gewöhnung ein. Zeigt die Standardtherapie bei einer schwerwiegenden Erkrankung keine ausreichende Wirkung, kann Cannabis als symptomorientierte Add-on Therapie zum Einsatz kommen.8,9 Die DGS PraxisLeitlinien Schmerzmedizin führen für die Verordnung von Cannabinoiden folgende mögliche Indikationen mit dem Empfehlungsgrad A an:9
– chronischen Schmerz,
– Tumorschmerz,
– nicht-tumorbedingten Schmerz,
– neuropathische Schmerzen,
– Spastik bei Multipler Sklerose und schmerzhafter Spastik
Die in Juli 2022 veröffentlichte Begleiterhebung bestätigt, dass Cannabinoide häufig bei chronischen Schmerzen verschiedener Ursachen (76,4 %) verordnet werden. In 75 % der Fälle erfolgte eine Verbesserung der Symptomatik und in 70 % eine Verbesserung der Lebensqualität.10
Abb. 3 Die wichtigsten Indikationen für eine Therapie mit Cannabis10
Cannabinoide in der Palliativmedizin
In der Palliativversorgung steht die Verbesserung der Lebensqualität von schwerstkranken Patienten im Fokus. Häufig leiden sie an verschiedenen komplexen Symptomen, wobei Schmerzen eines der häufigsten ist. So leiden 60-90 % der Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen an Schmerzen.11 Zusätzliche Symptome, die die Lebensqualität einschränken können, sind Schwäche, Depressionen, Angst oder Schlafstörungen, Übelkeit, Appetitverlust oder Kachexie.11,12
Sprechen die Standardtherapien nicht oder nur unzureichend an, sollte ein Therapieversuch mit Medizinalcannabis als reine symptomorientierte Begleittherapie im Rahmen des multimodalen Therapiekonzepts begonnen werden. Bei einer komplexen Symptombehandlung, die mehrere verschiedene Medikamente bedarf, können Cannabinoide eine gute Alternative sein, da sie mehrere Symptome gleichzeitig positiv beeinflussen können. Denn den Cannabinoiden werden analgetische, antiemetische und antiinflammatorische Effekte zugesprochen.12
In einem systematischen Review zu Cannabis in der Palliativversorgung konnten positive Behandlungseffekte (statistische Signifikanz p < 0,05) nachgewiesen werden. So besserten sich bei Krebspatienten Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Appetit, Schlaf, Fatigue sowie die chemosensorische Wahrnehmung und der paraneoplastische Nachtschweiß. Bei Demenzpatienten besserten sich Appetit und Unruhe, bei AIDS-Patienten Appetit, Übelkeit und Erbrechen.13
Cannabinoide – Opioid-sparender Effekt
Der Einsatz von Opioiden, die in der Palliativversorgung und zur Behandlung chronischer Schmerzen ein wesentlicher Bestandteil sind, geht mit dem Risiko einer Gewöhnung und potenzieller Nebenwirkungen einher. Daher sollte für jeden Patienten die individuell wirksame Dosis mit den geringsten Nebenwirkungen gefunden werden. Um die Opioid-Dosis zu senken oder niedrig zu halten, können opioid-sparende Arzneimittel eingesetzt werden, zu welchen Cannabinoide gehören.14
Ein aktueller systematischer Review analysierte, dass Cannabinoide einen Opioid-sparenden Effekt haben. Dieses Review zeigte auf, dass die Morphindosis für eine gleichwertige analgetische Wirkung um das 3,5-fache niedriger ausfällt, wenn sie zusammen mit Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) verabreicht wird. Ähnliche Effekte konnten für gemischte CB1/CB2-Agonisten belegt werden. Des Weiteren zeigten klinische Studien, dass die gleichzeitige Gabe positive Auswirkungen auf den Schlaf und die Leistungsfähigkeit chronischer Schmerzpatienten hat. Bisher fehlen Erkenntnisse zur optimalen Dosierung und zu den Patientengruppen, die von Cannabinoiden profitieren können. Daher bleibt die Behandlung chronischer Schmerzpatienten mit Cannabinoiden weiterhin ein großer Forschungsbereich, sodass mit neuen Publikationen in den nächsten Jahren zu rechnen ist.14
Im Tiermodell für neuropathische Schmerzen führte die Kombination von Cannabidiol (30 mg/kg) und Morphin (1 mg/kg) zu einer verstärkten antinozizeptiven Wirkung im Vergleich zu Morphin (1 mg/kg) allein. Um eine signifikante antinozizeptive Wirkung auf ausgelöste Schmerzen zu erzielen, wurde mindestens die doppelte Dosis von Morphin benötigt.15
Als ein Hindernis für einen weit verbreiteten Einsatz von Cannabis wird die psychoaktive Substanz THC angesehen. Daher wurde die analgetische Wirkung von den beiden nicht-psychoaktiven Substanzen Cannabidiol (CBD) und β-Caryophyllen (BCP) sowohl in Kombination als auch allein in einem Ratten-Rückenmarksverletzungsmodell überprüft. Beide Medikationen (allein und kombiniert) wurden als eine sichere und wirksame Behandlungsoption bei chronischen Schmerzen nach Rückenmarksverletzung eingeschätzt. Teilweise wurde auch das morphinsuchende Verhalten der Ratten reduziert.16
In einer prospektiven Kohortenstudie mit 131 Patienten, die wegen chronischer Schmerzen Opioide erhielten, konnten 53 % ihre Opioid-Dosis reduzieren oder sogar vollständig absetzen, nachdem sie zusätzlich einen CBD-reichen Vollextrakt einnahmen. Nahezu alle CBD-Anwender (94 %) berichteten von einer verbesserten Lebensqualität.17
Eine retrospektive Studie wies den Nutzen einer lang andauernden Therapie mit Cannabinoiden für geriatrische Schmerzpatienten nach. Sie erhielten im Median zwischen 5,6 mg und 11,1 mg THC pro Tag. Zu Beginn der Studie erhielten die Patienten im Median 65 mg Morphinäquivalente, zum Ende waren es nur noch 30 mg Morphinäquivalente (p< 0,001). Dabei war die Dosisreduktion unabhängig von der Dosis des medizinischen Cannabis. Als Vergleichsgruppe standen Patienten, die Opioide ohne medizinisches Cannabis erhielten, zur Verfügung. Der Opioidverbrauch änderte sich in der Vergleichsgruppe nicht.
Die Cannabis-Therapie war gut verträglich und unabhängig von der Cannabinoid-Dosis konnte der Opioidverbrauch um ca. 50 % gesenkt werden.18
Abb. 4 Opioiddosierungen (Morphinäquivalente) zwischen der Cannabis- und Vergleichsgruppe18
CAM = medizinisches Cannabis